Die Workshop-Teilnehmerin Gudrun Heyder …

… hat ebenfalls einen Text für den GYF-Wettbewerb geschrieben:

Mein Lieblingsort im Ruhrgebiet ist das Aalto-Theater.

Als das Essener Opernhaus 1988 eröffnet wurde, habe ich dort als Logenschließerin gearbeitet, das heißt: im maßgeschneiderten schwarzen Kostüm Eintrittskarten kontrolliert, Besuchern den Weg zu ihrem Platz gewiesen, die mit chinesischem Rosshaar gepolsterten Türen leise geschlossen. Zugleich habe ich damals meine Magisterarbeit in Kunstgeschichte über die Architektur dieses Opernhauses geschrieben. Ein Jahr lang habe ich mich in die Details dieses einzigartigen Bauwerks und seiner Entstehung vertieft, in dem guten Gefühl, Pionierarbeit zu leisten.
Tagsüber saß ich am Schreibtisch, über Fachlektüre und meine Schreibmaschine gebeugt. (Computer gab es erst später.) Fünf Mal in der Woche fuhr ich am frühen Abend zum Opernhaus und betrat es durch den Bühneneingang auf der schmucklosen Rückseite. Vor jeder Vorstellung legten meine Kolleginnen und ich endlos lange weiße Tücher zusammen. Sie bedeckten die Sessel im Zuschauerraum, die Aalto wie die gesamte Innenausstattung selbst entworfen hatte. Waren die letzten Besucher nach dem Schlussapplaus außer Sichtweite, deckten wir die Sessel sorgfältig wieder ab.
Alvar Aaltos Anspruch an seine Bauwerke lautete „Humanität“: „Wirklich funktionelle Architektur muss vornehmlich vom menschlichen Standpunkt aus funktionell sein. Architektur ist keine Dekoration, sie ist eine tief biologische, wenn nicht vielleicht noch mehr eine moralische Angelegenheit.“ Beim Ideenwettbewerb wurde Aaltos Entwurf 1959 mit dem ersten Preis ausgezeichnet, 1963 legte der berühmte finnische Architekt baureife Pläne vor. 1976 starb er, die Planung ruhte. 1983 begann die Bauausführung, dem Düsseldorfer Architekten Harald Deilmann anvertraut. Alvar Aaltos Frau Elissa, ebenfalls Architektin, beriet ihn künstlerisch.
Tagsüber Aalto-Theater in der Theorie, abends in der Praxis: Diese Kombination fand ich toll. Ich schrieb zum Beispiel über die asymmetrische Form des Zuschauerraums und beobachtete abends, wie er sich mit erwartungsfreudigen Menschen füllte, ich lauschte der vollendeten Akustik, wenn ich mich ausnahmsweise einen Akt lang auf einen leeren Randplatz setzen konnte.
„Der Zuschauerraum ist ein asymmetrisches Amphitheater mit einer gewellten Hinterwand und logenartigen Balkonen (…) von tiefblauer Indigofarbe. Das Schwingen und Komponieren habe ich auch im Inneren fortsetzen wollen.“ Alvar Aalto
Ich schrieb über die Treppen: den breiten Aufgang von der Garderobenhalle im Souterrain zum Foyer, der den Gästen Gelegenheit bietet, sich zu zeigen. Und über die schmale, scheinbar im Raum schwebende  Treppe vom Foyer zum ersten und zweiten Balkon, auf der sich öfters Staus bilden.
„(..) ein stufenartiges Panorama mit breiten Paradetreppen. Der Verfasser glaubt, daß man damit für das gesellschaftliche Leben und die Festlichkeit die richtige Theaterstimmung auch außerhalb des Zuschauerraums erhält. Das treppenförmige Bild findet seine Fortsetzung in den Treppen zu den Balkonen.“ Alvar Aalto
Der Job nahm viel Zeit in Anspruch. Ausgehen war gestrichen, denn ich war im Einsatz, wenn andere Menschen in der Oper saßen. Das nahm ich gerne in Kauf, denn die Arbeit wurde gut bezahlt und während der Vorstellungen konnten die Studierenden lernen und die älteren Kolleginnen unterhielten sich. Trotz der großen Altersunterschiede verstanden wir Logenschließer und Garderobieren uns prächtig. Wenn Besucher sich über ihren Platz, ihre Sitznachbarn oder die Inszenierung beschwerten, verhielten wir uns äußerst zuvorkommend. Aber die meisten waren freundlich und vom neuen Opernhaus begeistert.
Dramen gab es auch außerhalb der Bühne: Ein Paar aus dem Kollegenkreis trennte sich in diesem Eröffnungsjahr und alle litten mit, ein neues Paar bildete sich. Ein alter Herr starb während der Vorstellung im Foyer an einem Herzinfarkt, obwohl der Rettungsdienst schnell zur Stelle war. Die anderen Besucher bekamen nichts davon mit. Wir waren schockiert, sagten uns aber: Vielleicht ist es eine gute Art, sein Leben zu beenden, wenn man alt ist – mitten in einer Opernaufführung.
Eine besonders tolle Schicht war die Silvesternacht. Wir erlebten elegant gewandete Gäste, die Musik, Smalltalk und Champagner genossen, stießen um Mitternacht mit unserem eigenen Sekt an und scheffelten – nach Studentenmaßstäben – Geld, denn es gab für die Nachtarbeit satte Zuschläge. Am beliebtesten waren die kurzen Schichten mit Ballett, am ermüdendsten die fast achtstündigen Dienste mit Wagners „Meistersingern“. Unsere Chefin schaffte es mit ihrem ausgeklügelten Dienstplan, unsere Einsätze gerecht zu verteilen. Mit diesem angenehmen Job im schönsten Kulturgebäude der Stadt verdiente ich meinen Lebensunterhalt, bis ich als Journalistin in die WAZ-Redaktion einstieg. Dann blieb keine Zeit mehr, um Logen zu schließen.
Als ich 1988 meine Magisterarbeit verfasste, war das Essener Prestigeprojekt Aalto Theater in Bevölkerung und Politik umstritten: zu teuer und  wegen der Theater- und Operndichte im Ruhrgebiet überflüssig, hieß es vielfach. 25 Jahre später zählt Essens Opernhaus zu den wichtigsten Häusern  in Deutschland – wegen der Qualität seiner Architektur und seiner mit Preisen bedachten Inszenierungen.
Seit einem Vierteljahrhundert genieße ich das Aalto Theater als Besucherin. Zu den Erlebnissen mit „meinem“ Opernhaus zählt auch, dass ich dem Gründungsintendanten Manfred Schnabel half, eine Jubiläumsausstellung über dieses wichtige Spätwerk Alvar Aaltos zusammen zu stellen. Im Stadtgarten, an dessen Rand das Opernhaus steht, bin ich als Rüttenscheider Kleinkind spazieren gegangen und habe die Enten im Teich gefüttert. Dass dort später ein kulturelles Glanzlicht der Stadt entstehen würde, neben dem Saalbau, konnte ich nicht ahnen. Ich fand den Park schön, so wie er war, mit seinen großen Bäumen und Blumen.
„Das große Parkgelände des Stadtgartens und die weitgehende Freizügigkeit, die sich dem Architekten hier boten, haben geradezu stimulierend auf meine Idee gewirkt. In einem Park kann man nichts Hartes, Abruptes hinstellen, sondern nur etwas Fließendes, Organisches. (…) Zum Wesen des Theaters gehört das Medium der Phantasien; sie führte mich zu asymmetrischen Formen.“ Alvar Aalto

 

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