„Fluchtstücke“ von Anne Michaels

Manchmal kaufe ich irgendwo gebraucht ein Taschenbuch. Der Titel klingt interessant, der Name sagt mir nichts. Zu Hause landet es auf einem Stapel. Eines Tages finde ich es wieder, auf der Suche nach etwas Handlichem als Reiselektüre zum Beispiel. Dann stecke ich es ein, fange im Zug an zu lesen, und …

„Fluchtstücke“ war ein Schock!
Wieso hatte ich noch nie davon gehört
???

„Fugitive Pieces“. Die ersten fünfzig Seiten habe ich es immer wieder abgesetzt und ungläubig angestarrt. Am Ende war mir klar: So etwas Eindrucksvolles und zugleich Poetisches zum Thema Erinnerung hatte ich noch nie gelesen.

Das Buch ist ein Roman. Doch offenbar schöpfte die Autorin aus realen Quellen. Tagebücher, Memoiren, Augenzeugenberichte, in Gärten vergraben, in Hohlräumen versteckt, irgendwann wiedergefunden und gesammelt worden … (Von wem?) Diese Zeugnisse hatten überlebt, wer sie geschrieben hatte, meistens nicht.

Jemanden, der solche Bruchstücke gesammelt haben könnte, macht Anne Michaels zur Hauptfigur ihres Romans. (Jakob Beer, einziger Überlebender einer jüdischen Familie. Er irrt als Siebenjähriger durch einen Sumpf in Polen, wird von einem griechischen Archäologen versteckt, mit dem er nach Kanada auswandert, wird Dichter und Übersetzer …) Doch ist der Roman nicht einfach nur die Geschichte eines Mannes, der versucht, mit seinen eigenen traumatischen Erinnerungen zu überleben, oder sogar zu leben.
Das Wort „Stücke“ im  Titel ist ein bestimmendes Merkmal des Buches. Es verweist auf etwas, das unser Leben zutiefst beeinflusst: Erinnerung ist immer fragmentarisch! Und weil sie in Stücken vererbt wird – nicht selten wie eine tödliche, das Leben verunmöglichende Erblast – überlebt Erinnerung, auch wenn die Menschen schon tot sind. In der nächsten Generation kommen die harten, scharfkantigen Fetzen wieder an die Oberfläche, zerreißen manches, schlagen anderes in die Flucht, bis – schmerzhaft und zutiefst ersehnt – endlich, irgendwann eine heilende Erkenntnis möglich wird. Bis Liebe möglich wird.
Denn dies ist nicht nur ein Buch darüber, wie unfassbar gewalttätig Menschen sind, sondern auch ein Buch über die Liebe.

Auch formal ist der Roman im besten Sinne „Stückwerk“ und wird damit auf sinnlicher, sprachlicher und gedanklicher Ebene seinem Thema gerecht.

Ein unfassbar schönes Buch, dem es gelingt, unfassbar schreckliche Dinge zu benennen, zu betrachten und, ich möchte fast sagen, zu „besiegen“.

„Fugitive Pieces“ von Anne Michaels wurde 1996 in Toronto veröffentlicht, erschien im selben Jahr auf deutsch im Berlin Verlag, 1999 als Taschenbuch bei Rowohlt. Auch in viele andere Sprachen wurde es übersetzt. Anne Michaels hat außerdem Gedichte und einen weiteren Roman veröffentlicht (Wintergewölbe) und lehrt Creative Writing.

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