Autobiografie und kulturelle Identität – eine Buchrezension

Eine Rezension von Claudia Wenner in der Neuen Zürcher Zeitung vom 6.10.2012:

Weinkelch und sinnlicher Kuss

Sudhir Kakars Autobiografie «Die Seele der Anderen»

Claudia Wenner. Sudhir Kakar beginnt seine Autobiografie – im Original «A Book of Memory: Confessions and Reflections» – mit der Waschung der Leiche seines Vaters und dem Versagen seines Erinnerungsvermögens: Als er sich den brennenden
Scheiterhaufen vergegenwärtigen will, merkt er, wie sich ein anderer Gedanke in den Vordergrund schiebt, um von den qualvollen Bildern abzulenken – die sich dann doch noch einstellen.
Um sich beim Erinnern nicht austricksen zu lassen, bedarf es der Achtsamkeit und des Muts, die auch dem Psychoanalytiker als introspektionsfähigem Erinnerungsspezialisten nicht automatisch zufallen. Anders als in den Schilderungen seiner Kindheit und Jugend, die der Neuauflage von «Schamanen, Mystiker und Ärzte» (C. H. Beck, 2006) als
persönliche Vorrede vorangestellt sind, geht es Kakar diesmal erklärtermassen darum, Erlebnisse und Augenblicke zu evozieren, die sich ihm als bedeutsam eingeprägt haben und immer noch starke – und keineswegs nur angenehme – Emotionen in ihm hervorrufen. Die Wiederbelebung solcher Momente bietet eine gewisse Prävention gegen
Selbstbeweihräucherung oder Leblosigkeit – beides Gefahren, die dem Genre innewohnen und über die Kakar ausführlich spricht.
Der Autor führt uns nicht nur Erinnerungsszenen vor Augen, sondern ergänzt sie auch durch Briefe, die als Belege für vergangene Befindlichkeiten dienen. Er kommentiert, reflektiert und interpretiert, erläutert durch Anekdoten und Bonmots – und nimmt uns so mit auf eine abenteuerliche Reise, bei der Eros und Wein eine wichtige Rolle spielen. Weil das erinnernde Ich weder «bescheidwisserisch» noch allzu streng auftritt, gleichzeitig
jedoch selbstkritisch ist und von grosser Offenheit, wird die Reise vergnüglich. Erinnerungen an die Entdeckung der eigenen Sexualität oder an die Auseinandersetzung mit dem Vater sind Kakar als Absolvent einer Lehranalyse sicher besser zugänglich als nicht entsprechend Geschulten; und wer beispielsweise sein erstes Buch, «Kindheit und Gesellschaft in Indien», kennt, findet viele Bezüge zwischen Leben und Werk – wobei das Werk auf die Autobiografie zurückgewirkt haben mag.
Dass der eigene Forschungsgegenstand mit dem zu tun haben muss, was einen unbewusst beschäftigt, und das heisst: unbedingt angeht, hat Kakar seinWerdegang gelehrt. Die verschlungenen Pfade, auf denen er nach einem ungeliebten Ingenieurstudium
in Indien und einem langweiligen Volks- und Betriebswirtschaftsstudium in Deutschland in eine Identitätskrise geriet und dabei Erik Erikson begegnete – dem Psychoanalytiker, der den Begriff «Identitätskrise» kreierte –, führten ihn zu dem Entschluss, Psychoanalytiker zu werden und sich am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt ausbilden
zu lassen – eine Entscheidung, der er seine anhaltende Beschäftigung mit der indischen Identität verdankt, die vor ihm noch keiner kartografiert hat.
Die Unbeirrbarkeit, mit der Sudhir Kakar trotz allen Schwierigkeiten seiner inneren Stimme folgte, ist erstaunlich. Statt von Einflussängsten gepeinigt zu werden, bekennt er sich zu Vorbildern, Mentoren, Helfern, denen er vertraute, Verwandten, die ihn prägten, und Netzen, die ihn auffingen.
Er gewährt nicht nur Einblicke in die Innenwelt seiner Identitätsfindung, sondern schildert auch seine Reaktionen auf die Zeitgeschichte, beispielsweise wie er die Teilung Indiens erlebte oder den 1975 von Indira Gandhi verhängten Ausnahmezustand oder die deutsche Bundesrepublik der sechziger und siebziger Jahre, die er sich nach W. B. Yeats als Heimat von «Weinkelch und sinnlichem Kuss» erträumte – in Umkehrung der von Europa und Amerika auf Indien projizierten Sehnsucht nach Spiritualität.
Ausserdem gibt es wunderbare Vignetten wie die über die Begegnung mit Krishnamurti (dem berühmten spirituellen Lehrer), in der er vorführt, wie Neid die Wahrnehmung schärft und vereinseitigt – die Freimütigkeit solcher Bekenntnisse zeigt Kakar als
jemanden, der Erkenntnis über die eigene Eitelkeit stellt.
Leider muss abschliessend erwähnt werden, dass das mit gestreuten Fotos schön bebilderte Buch sehr nachlässig ediert ist: Während Kakar die von ihm hin und wieder verwendeten deutschen Begriffe – die in der Übersetzung nicht kenntlich gemacht sind – erklärt, wird der deutsche Leser mit den indischen Termini alleingelassen, die noch dazu oft mit falschem Genus versehen und manchmal fehlerhaft geschrieben sind. Ein Glossar hätte hier leicht Abhilfe geschaffen und verhindert, dass die Ausdrücke nur als exotische
Einsprengsel fungieren. Die Übersetzung ist nicht immer korrekt, geht über Nuancen hinweg und verfährt mit den Realien etwas zu sorglos: Das India International Centre ist kein Klub; «kachha» keine Unterwäsche, sondern ein knielanger Shalwar; ein planter’s chair kein Liegestuhl, sondern ein Lehnstuhl mit verlängerten Armlehnen, auf die sich die Füße legen lassen … Die Anmerkungen sind zum Teil falsch zugeordnet oder fehlen ganz; und manche Quellen, die in deutscher Übersetzung vorliegen, werden im englischen Original angeführt. Auch dass die deutsche Ausgabe um etwa fünfundzwanzig Seiten gekürzt wurde, bleibt ohne Vermerk – ganz so, als käme es auf all dies nicht an.

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